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“Hier beginnt das freie Territorium der Bunten Republik Neustadt.“

Grad wurde noch fleißig aufgebaut und flups war die BRN auch schon wieder vorbei !

Was das überhaupt ist? Die BRN ist ein Stadtteilfest der Äußeren Neustadt in Dresden, organisiert von interessierten, engagierten Bürgern dieser “bunten Republik”. Seit 1990 wird sie traditionell am dritten Juni Wochenende ausgerufen. Damals zur Wendezeit brachen mit der alten Gesellschaftsordnung Autoritäten und behördliche Kontrolle weg. In dieser Atmosphäre des Aufbruchs und kreativen Ungehorsams entstand aus diesen freigesetzten Energien das Fest.

Die Grenzen der Bunten Republik Neustadt wurden damals mit einem weißen Strich auf der Straße markiert. An den Eingängen prangten Schilder mit der vielversprechenden Aufschrift:

“Hier beginnt das freie Territorium der Bunten Republik Neustadt.

Bereits drei Jahre nach der Gründung, löste sich die ursprüngliche „provisorische Regierung“ auf, indem sie in der Elbe baden ging – ein doppeldeutiger ironischer Verweis. Seither hat sich das Fest von einer politischen Republik gegen Spekulation, Mietwucher, Zerstörung und Vertreibung der Bewohner zum Nachbarschafts-, Kunst- & Kulturfest entwickelt.

Ursprünglich hatte ich geplant die Stadt an diesem Wochenende zu verlassen, denn tausende respektlose Partywütige (ganze 100.00 davon waren erwartet) hatte ich bereits in Berlin Friedrichshain zu Überfluss. Doch je näher die Festivität vor meiner Haustür rückte, desto mehr reizte es mich, einmal zu gucken, wie es sich über all die Jahre verändert hat.

BRN
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Vor bestimmt 10 Jahren war ich das letzte Mal auf der BRN. Ich hörte von verschiedensten Seiten, dass es weg von politischen Aussagen und auch weg von einem beschaulichen Kulturfest, hin zum Party- und Saufgelage entwickelt hätte. Daher verspürte ich die letzten Jahre kein besonderes Interesse mehr her zu fahren.

Obendrauf kommt natürlich noch meine ganz persönliche Angst vor Menschenansammlungen. Doch seit der Loveparade-Katastrophe sind alle etwas vorsichtiger, was die Regelungen von Festen angeht. Und genau aufgrund dieser Angst vor einer Massenpanik wurden durch die Stadt, auf Basis einer Sicherheits-Analyse des Ordnungsamtes, ca. 100 Aussteller weniger erlaubt als die letzten Jahre. Zudem durfte auf vielen Straßen nur einseitig aufgebaut werden, in anderen galt gar ein Stände-Verbot. Außerdem wurden Sperrkreise mit 15 Metern Radius rund um alle Kreuzungen ausgerufen.

Das ließ meine Bedenken vor überfordernden Ballungspunkten zumindest etwas sinken. Allerdings fragte ich mich auch, was diese Auflagen für das Fest bedeuten, dass ich kannte. Ulla Wacker (44) vom Organisations-Team der BRN: „Die Flächenbegrenzung geht vor allem auf Kosten der Kultur-Beiträge. Viele bekannte Gesichter und traditionelle Programmpunkte fehlen dieses Jahr.“

Doch leider gab es neben den fehlenden Kultur-Beiträgen und Ständen und entgegen aller Vorbereitung, vor vielen Bühnen und im Radius rund um die DJ´s auf ihren Balkonen trotzdem extreme Menschenansammlungen, an denen man sich mit Müh und Not durchpressen musste. Man konnte teilweise die Füße heben und fiel nicht um. Dafür gab es überall völlig unsinnige Freiflächen ohne Stände. Tja, so ist das halt, wenn ein Fest wesentlichen durch die Rahmenbestimmungen aus Polizeiverordnung und Ordnungsbehörde diktiert wird…

Zum Abend hin empfand ich die Stimmung zudem als besonders belastend. Leider eben exakt so wie befürchtet: süffig, unpolitisch. – Damit auch überall Nazis, Hools und Prolls, Gekotze wo man hinsah, Gepöbel und natürlich billige Anmachen/Sexismus. Betrunkene Jugendliche schriehen in Minutentakt irgendeinen Nonsens und remplten einen beim Vorbeitorkeln aus Provokation an. Überall wurde Müll rumgeworfen oder einfach an Ort und Stelle fallen gelassen, Gläser und Flaschen schepperten. – Ein Stadtfest wie aus dem Bilderbuch. Ich fühlte mich äußerst unwohl hier inmitten des primitiven Sauftourismus.

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Ich war nun schon am resignieren, enttäuscht was aus der BRN geworden war, als ich plötzlich entdeckte, dass der alte jüdische Friedhof eine Sonderführung zum Stadtteilfest anbietet. Ihr müsst wissen, es handelt sich dabei um den ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof in Sachsen. Sogar den zweiten Weltkrieg hat er unversehrt überstanden und hat, wie man es sich bereits denken kann, so einiges zu erzählen.

Bereits seit Monaten plane ich bei einer ihrer Führungen mitzumachen, belas mich schon in Eigenrecherche ausführlich über die Geschichte des wunderschönen Friedhofs aus dem 18./19. Jhdrt. Ich wollte nun unbedingt mehr über die historischen, menschlichen und auch religiösen Dimensionen dieses Ortes in meinem Kiez erfahren.

Also ging ich am Sonntag, den letzten Tag der Feierlichkeit, los, schnappte noch fix meine Kamera und wurde auf dem Weg zum Treffpunkt mit meiner Freundin Marianne förmlich erschlagen von der großartigen Stimmung hier in der schönen Neustadt.

Überall frühstückten die Menschen gemütlich auf der Straße, Kinder boten ihre Spielzeuge auf Decken zum Verkauf an, riesige Seifen-Blubberblasen flogen durch die Luft, die verschiedensten Kulturen waren musikalisch vertreten. Zwar gab es aufgrund der übertriebenen Auflagen ein paar wundervolle Aktionen weniger, aber die hier und heute noch stattfanden, waren großartig!

Pure Lebensfreude wo ich hinsah: Bunte Essensstände und bunte Menschen, ein Samba-Truppe hier, ein Armdrücken-Tisch dort, eine Talkshow mitten auf der Straße. Egal wo Musik gespielt wurde, klatschten alle zum Takt oder tanzten friedlich zusammen egal welcher Herkunft, sex. Orientierung oder was auch immer.

Auch hier hatten vegane und vegetarische Speisen Einzug gehalten. Refugees welcome Fahnen in jeder Straße. Herzlichkeit überall. Nichts zu merken von dem angeknacksten, rassistischen Rufs Dresdens und dem sonst alltäglichen Rassismus mit dem man sich rumquält. – Es war wundervoll ! Wie eine Pause von dem normalen Übel.

Man könnte meinen es sei ein Viertel zum Verlieben und auch kaum ein Vergleich zu der angespannten, versoffenen Stimmung die Nächte vorher. So dokumentierte ich, was ich sah mit meiner Kamera, versuchte mein bestes diese Momente einzufangen.

Also nehme ich euch hier und jetzt mit auf meine kleine Entdeckungsreise dieses Tages…

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Kaum die herzliche Stimmung und tolle Musik genossen, war auch schon die Zeit für die Führung gekommen. Ich war ganz aufgeregt. (Ja, ich bin ein Geschichts-Nerd). Und fast hätten wir es nicht mehr pünktlich durch all die Menschenansammlungen geschafft.

Es war zwar insgesamt alles ruhiger als die letzten Tage und um einiges entspannter, aber in manchen kleinen Gassen kam man trotzdem kaum durch, besonders wenn dort eine Band spielte. Punkt 16 Uhr ging die Führung los und eine Minute vor 16 Uhr kamen wir am Friedhof an…

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Die Führung war wirklich großartig – unglaublich spannend und unterhaltsam! Und auch zu lachen gab es genug, spätestens wenn die Führerin schnippisch und geistreich über die Pegida herzog. Wenn auch ihr euch für Kultur und Geschichte interessiert, dann nehmt unbedingt einmal teil (Kontaktiert dazu den HATiKVA e.V. oder checkt ihre Ausschreibungen zu anstehenden Führungen) !

Zahlreiche zu Unrecht in Vergessenheit geratene Persönlichkeiten fanden hier ihre letzte Ruhestätte, hier unter einem dichten Baumdach und Efeuranken inmitten der Dresdner Neustadt. Eine spannende Spurensuche, auf die sich die engagierten Helfer und Helferinnen über Jahrzehnte begaben und nun interessierten Besuchern von ihren Ergebnissen und der umfangreichen Recherchearbeit berichten. Und ich kann eventuell sogar etwas beisteuern…

Letzte Woche erwarb ich ein kleines Büchlein auf dem Trödelmarkt, in den private Notizen und sogar ein Stundenplan geschrieben wurden. Das Spannende daran: das Buch ist um die 1900 gedruckt worden und der Wochenplan enthält unter anderem “Hebräisch” als Schulfach.

Nach dem Rundgang erzählte ich unserer Führerin von meiner Entdeckung. Der Verein freut sich nun darauf, dass ich bald einmal vorbei komme, ihnen das Buch zeige und es ihnen zum Abfotografieren zur Verfügung stelle. Verspricht spannend zu bleiben! Aber zunächst gehen wir etwas essen. Es wird Zeit!

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Nach dem Essen vom Café v-cake vertraten wir uns bei einem superleckrem Softeis die Beine für eine letzte Runde durch den feiernden Stadtteil.

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Die Zeit verging wie im Fluge, wie immer wenn man sich wohl fühlt. Wir hatten ein Dauergrinsen auf dem Gesicht und eine wohlige Wärme im Herzen, so überschwenglich positiv waren die Erlebnisse dieses Tages für uns. Als ich mich bereits auf den Weg machte meine Lucy abzuholen, entdeckten wir eine Ausstellung mit Fotos des Stadtteils im Laufe der Zeit.

Also eins ist sicher: Hier gab es neben den üblichen Verdächtigen – den sympathischen, schrulligen oder auch biederen Anwohnern, auch immer schon kreative, kämpferische Menschen aus der linken Szene. So muss das ! Und wie wunderbar jetzt neben Kultur, Musik und Essen, nun auch noch etwas Stadtteilgeschichte mitzubekommen…

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Ach das war ein witziger Abschluss dieses Tages und des Wochenendes! Auf dem Weg zur Bahn erhaschen wir noch ein paar letzte Blicke und verlassen so langsam die BUNTE REPUBLIK NEUSTADT.

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Na das war doch echt mal ein schönes Wochenende ! Mein Fazit: Ich hatte großartiges Essen, Zeit mit den besten Freunden, die man sich vorstellen kann, viel zu lachen, habe getanzt und zufällig auf der Straße nette Fans getroffen. Sie drückten mich und sprachen mir ihre Sympathien und Bewunderung aus. So viel Liebe !

Lucy

Aber wenn mir das Alles so gefällt, muss dann nicht irgendwas falsch sein mit mir? Werde ich alt? Wo bleibt denn die Rebellion, das Verrückte, das Politische?

Der Republik-Gedanke ist über die Jahre hinweg verschwunden. Es gibt faktisch nichts Politisches mehr auf diesem Fest, keine Straßenkämpfe abends, dafür unzählige kommerzielle Stände und dabei besonders: Alk, Alk. Alk.

Bis auf einige frische, rote Graffitis gegen Pegida und Rassismus vom Tag vor dem BRN-Beginn, gibt es kaum ein Aufbegehren mehr gegen Staat und Missstände. Und noch schlimmer: Nazis laufen wie selbstverständlich in einschlägig bekannten Symbolen und Bekleidungsfirmen über das Gelände, Polizisten an jeder Ecke. Als einige Menschen sie auf eine Gruppe aufmerksam machten, die “Heil Hitler” riefen mit dem dazugehörigen Gruß – keine Reaktion seitens der Staatsgewalt.

Überall Polizei und Nazis, keinen den es interessiert. – Man fühlt sich fremd hier. Das ist nicht die BRN, die ich kannte und liebte. Ich fühlte mich meist unwohl dieses Wochende. So wie jedes Stadtfest geht es hier hauptsächlich um Geldmacherei und die Besucher wiederum sind hauptsächlich Sauftouristen.

Die einzige wirklich, kritische Aktion dieses Wochenendes richtete sich demnach nicht gesellschaftsanprangerd nach außen, sondern direkt gegen das Fest an sich. So trugen die Jungs und Mädels (und *) von Asonet die BRN symbolisch zu Grabe. Die Republik geopfert auf dem Altar des Kommerzes.

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Foto: Ulla W.

Ja, auch wenn diese Kritik viele Jahre überfällig ist, sie haben absolut recht: Die Bunte Republik Neustadt ist faktisch tot. Von den einstigen Wurzeln ist außer dem Festgelände nichts mehr übrig.

Vielleicht sind die negativen Entwicklungen der Jahre ja auch eine Motivation für die Anwohner, im nächsten Jahr wieder was Eigenes vor der Tür zu veranstalten oder die BRN aus den benannten Gründen konsequent zu boykottieren, sich auch endlich wieder offener gegen Nazis zu positionieren. Denn wer will die vor seiner Tür feiern sehen?

Das ist unser Viertel !

Lasst uns die Neustadt bunt und vielfältig halten und Nazis konsequent rauskicken! #dresdenbleibtbunt

Zivilcourage statt Polizeipräsenz !

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4 Kommentare auf "“Hier beginnt das freie Territorium der Bunten Republik Neustadt.“"

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